Der Sprechcoach Markus Wentink analysiert Videos von Predigten. Dabei entdeckt er unschöne Floskeln, Drohgebärden und Authentizität. Um das Publikum zu begeistern, braucht es mehr als Worte.
Text: Marie-Christine Andres
Foto: Annette Boutellier
Wer das Stichwort «Predigt» bei Youtube eintippt, findet von der flammenden Endzeitdarstellung bis zur nüchternen Suren-Auslegung die ganze Palette religiös-rhetorischer Kunst. Markus Wentink, katholischer Theologe und Coach für mündliche Kommunikation, ist bereit, in dieses Universum einzutauchen. Vorher hält er fest, worauf er bei der Predigt-Analyse besonders achtet: «Was ist das Ziel? Welche Stimmung entsteht? Geht es um dialogische Rhetorik oder um blosse Verkündigung göttlicher Wahrheit? Und natürlich: Wie wirkt die Rednerin oder der Redner?»
Den Anfang macht eine reformierte Pfarrerin. Sie predigt aus den Büroräumlichkeiten ihrer Kirchgemeinde und steigt ein mit: «Die Gnade von Gott sei mit euch.» Nicht optimal, findet Wentink, denn mit dieser Aussage präsentiere sich die Pfarrerin in einer Machtposition. In einem Gottesdienst sollten inklusive Formeln verwendet werden, die die Leute einladen. Zum Beispiel: «Wir feiern den Gottesdienst im Namen des Vaters.» In der Überleitung zum Bibeltext erwähnt die Sprecherin dann, der Psalm, um den es heute gehe, gehöre zu ihrer täglichen Meditation. «Was beim Tinder-Date schlecht ist, funktioniert auch beim Sprechen im liturgischen Kontext nicht», meint Wentink. Zu viel von sich selber reden, veranlasse die Zuhörenden abzuhängen. «Wer die Leute abholen will, muss sich in ihre Welt begeben und diese ansprechen.»
Saft im Bart des Sprechers
Im nächsten Video filmt ein Rabbi seinen Religionsunterricht. Es geht um Alltagsfragen, die er anhand der Thora beantwortet. Heute sitzt der Herr mit grauem Bart in seiner privaten Küche, mixt Bloody Marys und verteilt sie an seine Schüler.
«Wer die Leute abholen will, muss sich in ihre Welt begeben.»
Markus Wentink, Kommunikationsfachmann
Eine gut verständliche Sprache und eine überzeugende Körperhaltung, meint Experte Wentink. «Er stellt etwas dar, von dem er weiss, dass es nicht Allgemeingut ist. Seine Welt vertritt er selbstbewusst, manchmal fast etwas trotzig.» Der Rabbi lässt die Zuschauer nah an sich ran. Sie sind fast real dabei, wenn ihm Saft in den Bart tropft. Markus Wentink schätzt die Authentizität: «Er hat zwar unbestritten eine sehr orthodoxe Sicht der Dinge, wirkt aber echt und versteckt nichts.» Zum Schluss sagt der Rabbi: «Ich sprech’ jetzt einen Segen.» Gut so, findet Markus Wentink: «Er führt den Segen ein und nimmt so die Zuhörenden mit.»
Bei der Predigt eines islamischen Scheichs achtet Wentink besonders auf die Gestik. Der Redner macht den «Igel»: Er legt die Handflächen aneinander und zeigt mit gestreckten Fingern auf die Zuhörer. «Das wirkt angriffig.» Allerdings sei Gestik stark kulturell geprägt und müsse deshalb vorsichtig interpretiert werden.
Kämpferisch zeigt sich auch ein Mufti, der über den Umgang mit dem Videoportal Tiktok spricht. Er klopft auf den Tisch, reisst die Augen auf, zieht die Augenbrauen hoch, droht mit dem Finger. Der Sprechcoach attestiert ihm, dass er wach und engagiert wirke, aber auch bedrohlich: «Dass er Tiktok gefährlich findet, begreift jeder, ohne die Sprache zu verstehen.»
Die gemeinsame Sache
Im letzten Video tritt der Pastor einer beliebten Freikirche auf. Er steht mit Mikrofon auf der Bühne, die Bibel unter den linken Arm geklemmt. Das Buch scheint ihn zu blockieren. «Weglegen», rät Markus Wentink. Der braun gebrannte Mittfünfziger macht kaum Pausen, atmet schnappend und bleibt immer mit der Stimme oben. «Nachdenken ist hier nicht gefragt», konstatiert Wentink.
Er vermisst den Zuschauerbezug. «Es braucht auch mal eine Relativierung im Stil von: Ich weiss nicht, wie es euch geht.» Hier missachte der Redner einen Grundsatz der kooperativen Rhetorik: «Wer spricht, muss Fragen und Gedanken der Zuhörer ernst nehmen und das Besprochene zur gemeinsamen Sache machen.»