Der Alpsegen ist auch Frauensache. Mina Inauen bittet jeden Abend um Schutz und Wohlergehen für sich, ihre Tiere und die Natur.
Text: Delf Bucher
Foto: Annette Boutellier
Zwischen sieben und acht Uhr abends ist für Mina Inauen Betruf-Zeit. Natürlich hat es sich bei mancher Wandererin, bei manchem Sommerfrischler herumgesprochen: Mina Inauen ist die Älplerin, die vielleicht als einzige Frau in der Schweiz den Betruf erklingen lässt. Ein schöner Schnappschuss fürs Familienalbum wäre das. Aber den Trichter in der Hütte rührt die Appenzellerin unter Tags nicht an. Da gibt es keine Ausnahme. «Für mich ist der Alpsegen nicht bloss Folklore», sagt sie. «Für mich ist das ein Gebet. Ein gesungenes Gebet, von dem man zu Recht sagt, es sei doppelt so viel wert.»
Gott, der grosse Kümmerer
Die 71-jährige Älplerin mit dem verschmitzten Lächeln strahlt eine Unbekümmertheit aus, die sie, wie sie selber sagt, dem grossen «Kümmerer» zu verdanken habe. Gott ist für Mina Inauen allgegenwärtig. Seine Kräfte erkennt sie auch dort, wo andere nur tote Materie sehen: in bizarr verwachsenen Wurzeln oder erodierten Steinen. «Da wird die Energie sichtbar», sagt die Sennin, die sich von der Natur magisch berühren lässt.
Dann ist es soweit. Das Kuhgebimmel auf der Alp Streckwees auf über 1250 Metern ist verstummt, das Vieh im Stall. Ruhe kehrt ins Hochtal ein. Keine Kinderschreie sind vom nahe gelegenen Sämtisersee im Alpstein zu hören. Mina Inauen holt den Milchtrichter, stapft auf eine kleine Anhöhe und ruft: «Ave Maria! Es walten Gott und Maria! Bhüets Gott ond erhalts Gott!» Auch der «lieb Herr Jesus Christ» und eine ganze Armada von Heiligen sollen vor Ungemach schützen. Mit kräftiger Stimme lässt sie Zeile um Zeile des Betrufs erklingen, stellt am Ende den Holztrichter zurück und deckt mit flinken Händen den Tisch vor der Hütte für das Znacht.
Rega und Antonius helfen
Zufrieden setzt sie sich, blickt in den Abendhimmel. Durch die Wolkenritzen fluten Sonnenstrahlen, beleuchten die Widderalpstöck, deren spitze Zacken wie auf den dornigen Schuppenpanzer eines Dinosauriers aufgesetzt wirken. «Wenn Leute mich fragen, wie das sei ohne Fernsehen, sage ich: Da oben kann ich stundenlang Fernsehen. Die Wolken verändern sich ständig.» Und im heutigen Abendprogramm taucht am Horizont auch noch ein Rega-Helikopter auf. Am Seil baumelt eine Kuh. Mina Inauen greift zum Feldstecher und sagt zu ihrem Mann: «Zum Glück lebt sie noch.»
Eben hatte sie im Alpsegen noch den heiligen Antonius angerufen, damit er das Vieh vor Unfällen schütze. Die «Viehheiligen», dazu gehören auch Martin und Sebastian, seien immer dabei. Und natürlich fehlt im Gebet auch nicht der wichtigste Schutzpatron der Ostschweizer, der heilige Gallus, dem der Legende nach selbst der gefährliche Bär aufs Wort gehorchte. Die Sennin runzelt die Stirn: Mit dem Bären habe sie kein Problem, dass nun aber der Wolf im Alpstein herumstreiche, findet sie unheimlich. «Deshalb habe ich eine neue Zeile in den Betruf eingefügt», sagt sie entschieden. «Bhüet Gott uns vor dem bösen Wolf.»
Als Mina Inauen Anfang der 1960er-Jahre als junges Mädchen zum ersten Mal den Betruf auf der Alp erschallen liess – ein Milchkontrolleur führte sie in den Brauch ein –, galt der Wolf in der Schweiz als ausgerottet. In ihrer Kindheit gab es zur Streckwees noch keine Zufahrtswege, kein Auto konnte hochfahren, keine Melkmaschinen waren im Stall. «Für mich war es eine schöne Kindheit, aber für meine Eltern war es harte Arbeit.»
Beten können alle
Dass sie als Frau in der Abenddämmerung den Schutzbann gegen alles Böse ausrief, störte niemanden. Auch ihren Vater nicht. «Freiheitsliebend wie wir alle in unserer Familie sind, war ihm das einerlei.» Und mit Schalk in den Augen fügt sie an: «Beten können schliesslich beide, Männer und Frauen!»
So ertönt seit fast 60 Jahren das Schutzgebet immer in der Alpsaison in dem Hochtal rund um den Sämtisersee. Und ganz am Schluss, nach einem dreimaligen Ave Maria, gibt es einen Juchzer. Voller Lebensfreude und uneingeschränktem Gottvertrauen.