Sidar Özbek lernt, die traditionelle alevitische Musik für den rituellen Gebetstanz zu spielen.
Text: Christoph Knoch
Foto: Pia Neuenschwander
Es ist Sommerpause im Berner Haus der Religionen. Ruhig ist es auf dem Europaplatz, endlich scheint wieder einmal die Sonne. Punkt 13 Uhr treffe ich Sidar Özbek, den 17-jährigen Berner Gymnasiasten. Die Türen sind verschlossen. Sidar hat einen Schlüssel, denn seine Mutter engagiert sich im Vorstand des Vereins der Aleviten in Bern. Gemeinsam gehen wir hinauf in den ersten Stock zur Dergâh. Dabei handelt es sich um den Versammlungsraum der Religionsgemeinschaft.
Schlicht ist der Raum, Tische, Stühle, nebenan eine kleine Küche – nur zwölf hohe, schmale und leere Nischen in den Wänden lassen erahnen, dass hier Alevitinnen und Aleviten gemeinsam feiern. Ein grosses farbiges Wandbild zeigt tanzende Männer und Frauen und einen Musikanten, der eine Art Laute spielt. Unscheinbar steht die Feuerschale am Rand des Raums. Erst wenn hier gefeiert wird, wird sie entzündet.
Selbstständiges Lernen
Die Aleviten und Alevitinnen kennen keinen institutionalisierten Religionsunterricht, wie er in anderen Religionen üblich ist. «Meine Eltern haben mir wenig über das Alevitentum erzählt. Ich habe meine Grosseltern gefragt, und viel habe ich bei unseren Versammlungen in der Dergâh gelernt», erzählt Sidar. «Dazu recherchiere ich im Internet, dort ist vieles zu finden, doch ist unklar, was richtig oder falsch ist. Wir seien Anhänger von Ali, heisst es. Andere sagen, von Hussein, und wieder andere, das alles stimme nicht. Jedenfalls ist das Alevitentum ein Weg, auf dem ich vierzig Stufen hinaufsteige und durch vier Türen hindurchgehe, um ein vollkommener Mensch zu werden.»
Gut gehütete Geheimnisse
Es sei ihm wichtig, mehr von seiner Religion zu erfahren, doch sei das gar nicht so leicht. «Alle Aleviten, die ich frage, erzählen mir anderes. Wir haben keine Schriften wie die Bibel, den Tanach oder den Koran. Für mich heisst, Alevite zu sein, alle Menschen zu akzeptieren und zu versuchen, selber ein vollkommenes Wesen zu werden, ohne Gewalt und voll mit Liebe. Ich bin stolz, Alevite zu sein, und verstecke das nicht.»
«Manche haben ein fixes Gottesbild, andere nicht. Ich denke, Allah – oder Gott – ist in mir und nicht im Himmel.»
In der Schule fällt Sidar nicht auf, denn religiöse Zeichen trägt er keine. «Ich komme mit allen Kolleginnen und Kollegen gut aus, ob sie nun Muslime, Christen oder religionslos sind.» Während es den Grosseltern von Sidar wichtig war, dass ihre Kinder innerhalb der Gemeinschaft heirateten, würden seine Eltern ihm nicht vorschreiben, mit wem er befreundet sein dürfe. «Für mich ist entscheidend, was für ein Mensch jemand ist. Alle sind gleich, niemand ist besser oder steht höher. Allen will ich mit Respekt begegnen», erklärt er.
Gemeinsam feiern
«Regelmässig komme ich zu den gemeinsamen Feiern in die Dergâh. Es ist schön, dass Männer und Frauen gleich sind. Alle, die sich auskennen, dürfen den Semah, den Gebetstanz in der Dergâh leiten.» Dieses Ritual ist das, was auf dem grossen Wandbild dargestellt ist: Der Musikant ist der Dede, ein Gelehrter. Die Laute, die er spielt, ist die Saz, die im Alevitentum typischerweise beim Semah zum Einsatz kommt. Zu dessen Klängen drehen sich die Gläubigen im Kreis. Dieses Ritual sei zentral für die alevitische Tradition, sagt Sidar. Er sitzt vor dem grossen Wandbild und sinniert über das Gebet in der Dergâh. «Ich habe noch nie getanzt, und im Moment spiele ich die Saz nur zu Hause. Die religiösen Melodien sind schwierig zu spielen, die Texte sind tiefgründig und stark mit der Religion verbunden.»
Vielfältige Gottesbilder
Nachdenken, diskutieren und Fragen stellen seien ihm sehr wichtig. «Für manche gibt es so etwas wie ein fixes Gottesbild, für andere nicht. Ich denke, dass Allah – oder Gott – in mir und nicht im Himmel ist. Da entscheide ich selber.» Zum Glück sei das Alevitentum, wie er es erlebe, sehr frei, stellt Sidar fest und spielt ein paar Takte auf der Saz.