Das Verhältnis zwischen Kirche und Staat hat sich im Laufe der Geschichte immer wieder verändert. Heute muss es neu ausgehandelt werden.
Text: Tilmann Zuber
Wer das Verhältnis zwischen Kirche und Staat in der Schweiz verstehen will, muss tief in die Kirchengeschichte eintauchen. Im Mittelalter verfügte die (katholische) Kirche über eine unabhängige Rechtsordnung und über Bistümer, Klöster, Stifte und Ländereien. Hier fanden das Bildungswesen, die Kultur und die Fürsorge statt. Gegen Ende des Mittelalters drängten Fürsten und Städte die Macht der Kirche und des Klerus zurück.
Die Reformation veränderte die Situation völlig. Staatliche Ratsherren erhielten die Oberaufsicht über die reformierte Kirchenorganisation, die Obrigkeit zog die kirchlichen Güter ein. Im Gegenzug übernahmen sie deren einstige sozialen und kulturellen Aufgaben. Zwar hatten die Reformatoren Zwingli und Calvin grossen Einfluss auf staatspolitische Fragen, doch faktisch lag die Führung in der Hand der weltlichen Obrigkeit. Entsprechend wurden Andersgläubige wie die Täufer brutal verfolgt und hingerichtet. Ebenso Frauen, die man der Hexerei angeklagt hatte.
Auch in den katholischen Orten gab es starke staatliche Einflüsse, aber durch ihre Anbindung an Rom behielt die katholische Kirche deutlich mehr Eigenständigkeit. Im 17. Jahrhundert verfestigte sich in den meisten reformierten Gebieten das Staatskirchentum.
Garantierte Religionsfreiheit
Im Zuge der Aufklärung und des Liberalismus emanzipierte sich das Bürgertum im 19. Jahrhundert von den Kirchen. Freikirchen und christliche karitative Vereine verbreiteten sich, angetrieben von der Erweckungsbewegung und den Idealen der Romantik, die das persönliche Bekenntnis zu Gott betonten. Auf katholischer Seite hingegen nahmen konservative Kräfte den Kulturkampf gegen die liberal-demokratischen Kräfte auf. Der Konflikt endete mit den Klosteraufhebungen in den Kantonen Aargau und Solothurn und dem Sieg der liberalen eidgenössischen Armee im Sonderbundskrieg.
Die Bundesverfassung von 1848 garantierte den christlichen Konfessionen die Kultus- und Religionsfreiheit. Ausgenommen waren die jüdischen Gemeinschaften. Im Aargau, in dem ein Drittel der Jüdinnen und Juden lebte, wurde ihre Gleichberechtigung vom Stimmvolk 1862 wuchtig verworfen. Der Bund verfügte dann ein Jahr später die politische Gleichberechtigung der Aargauer Juden.
Gegenüber anderen Religionen hat die Schweizer Bevölkerung bis heute Bedenken. 2009 befürwortete das Stimmvolk das Minarett-, 2021 ein Burkaverbot. «Viele Schweizerinnen und Schweizer fremdeln weiterhin gegenüber religiöser Freiheit und Toleranz», stellt der Historiker Josef Lang fest.
Trend zur Entflechtung
Das Kirchenwesen liegt seit 1848 weitgehend in der Hand der Kantone. Entsprechend entwickelten sich die Landeskirchen völlig unterschiedlich. In den traditionell reformierten Kantonen schufen die Reformierten liberal-demokratische Strukturen analog zum Kanton. Die Kirchgemeinden erhielten eine grosse Autonomie. Auf katholischer Seite verlief dieser Prozess deutlich langsamer. Mit dem Segen des apostolischen Stuhls wurde neben der kanonischen Ordnung ein staatskirchenrechtliches Modell mit Kirchgemeinden, Kantonalkirchen und Synoden eingeführt, das dem reformierten gleicht.
Heute geht der Trend hin zur Entflechtung von Kirche und Staat. In den meisten Kantonen sind die reformierte, die römisch-katholische ebenso wie die christkatholische Kirche öffentlich-rechtlich anerkannt. Sie haben eine gewisse Autonomie, der Staat zieht ihre Kirchensteuern ein, und sie erhalten kantonale Zuschüsse. Am stärksten vom Staat unabhängig sind die Kirchen in Genf und Neuenburg. Basel-Stadt kennt die «hinkende Trennung», die Landeskirchen sind öffentlich-rechtlich anerkannt, erhalten vom Kanton und der Wirtschaft aber keine Beiträge.
Wichtige Landeskirchen
Inzwischen sind die gesamtgesellschaftlichen Aufgaben der Landeskirchen das entscheidende Argument in der Diskussion über die Trennung von Kirche und Staat. Und diese Leistungen sind beachtlich. Etwa durch die Spezialpfarrämter in den Spitälern, Gefängnissen, bei der Polizei, in Flughäfen, Bahnhöfen oder im Asylwesen. Andererseits durch das grosse Heer an Freiwilligen, die in den Gemeinden sozial und karitativ wirken.
Die Anzahl der Konfessionslosen, der Muslime, der Hindus und Orthodoxen in der Schweiz steigt stetig. Es gibt muslimische Seelsorge im Militär, im Spital, in Asylzentren. Immer mehr stellt sich die Frage nach der öffentlich-rechtlichen Anerkennung etwa muslimischer Vereine, analog zu den jüdischen Gemeinden in gewissen Kantonen. Für die Zürcher Regierungsrätin Jacqueline Fehr wäre dies eine logische Folge.
«Die muslimischen Vereine und die orthodoxe Kirche leisten schon heute unschätzbare Dienste zum Nutzen der Gesellschaft», erklärte sie jüngst. Und dies ohne einen Franken vom Kanton zu erhalten. Für die SP-Politikerin stehen die künftigen Eckpfeiler für eine zeitgemässe Religionspolitik fest: »Sie müssen sich an der Leitidee der Teilhabe und der Nichtdiskriminierung orientieren.»