Er schneidet den Bart und die Haare nicht

Rajvir Singh ist überzeugter Sikh. Nächstens will er lernen, den grossen Turban zu binden.

Text: Christa Amstutz
Foto: Pia Neuenschwander

 

Rajvir Singh kommt gegen Mittag in den Gurdwara Sahib in Däniken. Die Gebetsund Schulstätte der Sikh wurde nach punjabischen Vorbildern gebaut und 2002 eröffnet. Hier trifft der 18-Jährige sonntags Freunde, Bekannte und Familie und besucht den Religionsunterricht. Er wurde in der Schweiz geboren, fühlt sich seiner Kultur und Religion aber sehr verbunden. «Sikh zu sein, ist der wichtigste Teil meiner Identität», sagt er.

Dazu gehört für ihn auch der Turban. Noch trägt er nur ein anderthalb Meter langes Tuch um den Kopf. Um das Parna zu binden, braucht er drei Minuten. Doch bald schon will er sich an den «richtigen» Turban wagen, der je nach Bindeart unterschiedlich heisst und den auch sein Vater und Grossvater tragen. Bis zu acht Meter lang ist dieser. «Ich werde lange üben müssen», sagt er und lacht.

Fünf Symbole

Seine Haare und seinen Bart hat der junge Mann noch nie geschnitten, weil sie in seiner Religion als Teil der Schöpfung gelten, die man nicht stören soll. «Zusammengebunden im Dutt unter dem Turban sind die Haare geschützt und entsprechend gesund», fügt er an. Nebst dem ungeschnittenen und bedeckten Haar trägt Rajvir im Moment nur ein zweites der fünf Sikh-Symbole, die alle mit K beginnen: den Karha, einen eisernen Armreif, der für Mut und das Einstehen für Gerechtigkeit und Frieden steht.

Rund 1000 Sikhs leben in der Schweiz. Viele flohen zwischen 1980 und 1996 vor politischen Unruhen in die Schweiz und sind anerkannte Flüchtlinge. Nur ein kleiner Teil von ihnen schneidet sich die Haare nicht und trägt einen Turban. Aber die meisten folgen dennoch ihrer Religion. Auch ihre Nachnamen zeigen die Verbundenheit. Alle Männer heissen Singh und die Frauen Kaur.

Curr y für alle

Rajvir betritt den grossen Gastraum im Parterre des Gurdwara Sahib. In langen Reihen sitzen Jung und Alt, Frau und Mann eng beieinander. An diesem Tag kommen viele hinduistische Gäste hinzu. Alle geniessen frittiertes Gemüse und Currys. Das ganze Essen ist vegetarisch, auch wenn längst nicht alle Sikhs vegetarisch leben. Die Idee dahinter: Wer kommt, soll mitessen können – egal welche Speisegesetze seine Religion vorschreibt.

 

«Sikh zu sein, ist der wichtigste Teil meiner Identität.»

 

Gastfreundschaft ist bei den Sikhs fundamental. Alle Menschen sind willkommen im Gurdwara, und alle sollen satt werden. «Teilen ist für die Sikhs genauso ein Gebot wie arbeiten und beten», so Rajvir.

Was die im 16. Jahrhundert von Guru Nanak im nordindischen Punjab gegründete Religion weiter ausmacht: Sie lehnte das indische Kastensystem strikt ab und erklärte Mann und Frau für gleichberechtigt. Der Religionsgründer mischte Elemente des Hinduismus und des Islam. Sikhs glauben an die Wiedergeburt genauso wie an einen einzigen gestaltlosen Schöpfergott.

Im Goldenen Tempel

Das höchste Heiligtum seiner Glaubensgemeinschaft hat Rajvir schon besucht. Der Harmandir Sahib, der Goldene Tempel, steht im nordindischen Amritsar. Die vier Eingänge der Anlage symbolisieren die Offenheit und Toleranz der Sikhs gegenüber allen Menschen und Religionen. «Ich war sehr beeindruckt», erzählt Rajvir.

Während im Obergeschoss des Gurdwaras in Däniken Sikh-Priester, die Raghi, die Schriften lesen und sie singend und musizierend auslegen, geht Rajvir zum Religionsunterricht. Dort übt eine freiwillige Lehrerin mit zwei Kindern das punjabische Alphabet. Rajvir und ein Kollege lesen religiöse Texte ab Handy vor. Ab und zu korrigiert die Lehrerin sie.

Wie in den meisten Religionen gibt es auch im Sikhismus verschiedene Rituale im Lebenskreis. Zur Geburt, zur Hochzeit, zum Tod. Doch das Begrüssungsritual zur Geburt ist keine richtige Initiation. Die Sikh-Taufe findet später statt, und nur die wenigsten entscheiden sich dafür. Denn dann gilt es, alle Regeln einzuhalten, sich ganz dem Glauben zu widmen. «Amrit» sei schon eine grosse Sache, sagt Rajvir. «Vielleicht bin ich irgendwann so weit.»