Für das jüdische Mündigkeitsritual muss Ezra Osherovich die Heilige Schrift lesen können.
Text: Beatrix Ledergerber-Baumer
Foto: Pia Neuenschwander
Ezra Osherovich legt den Gebetsschal um die Schultern, holt feierlich die Thora-Rolle – die jüdische Heilige Schrift – aus dem kostbaren Schrein mit samtenen Vorhängen, schreitet damit im Kreis. Der 13-Jährige übt für seine Bar-Mizwa-Feier. Das ist der Tag, an dem jüdische Kinder im religiösen Sinn erwachsen werden. Dann wird Ezra zum ersten Mal vor der versammelten Gemeinde der Sabbat-Feier vorstehen und aus der Thora vorlesen. Vorlesen heisst: die hebräischen Schriftzeichen entziffern und den Text in Iwrit, der hebräischen Sprache, nach allen Regeln der Kunst vorsingen. Das braucht Übung und einige Jahre Unterricht.
«Die hebräischen Buchstaben lernen wir von klein auf im jüdischen Religionsunterricht», erzählt Ezra. «Aber zuerst ist man sehr auf das Lesen konzentriert und weniger auf das Verständnis.» Während es für die Melodie in gedruckten hebräischen Bibeln eine Art Notation gibt, muss man sie in der Thora-Rolle aufgrund der Worte und Buchstaben selber singen können, was zusätzliche Übung bedeutet.
Es gibt im Judentum viele rituelle Gebete, Gebräuche und Regeln. Ezra findet es «spannend, das alles kennenzulernen». Denn seine Familie ist nicht orthodox, daher kennt er das alles noch gar nicht. «Wir feiern die Feste, das ist alles.»
Individueller Unterricht
«Die Thora-Rolle ist schwer», sagt Ezra, während er sie hochhält. Sein Lehrer Dan Dunkelblum bereitet die Kinder geduldig und liebevoll auf ihren grossen Tag vor. Dieses Jahr sind es zwei Buben – nebst Ezra auch noch Jonathan. «Aber Mädchen feiern bei uns in der liberalen jüdischen Gemeinde genau gleich wie die Buben», betont Dunkelblum. «Bei den Mädchen heisst es Bat-Mizwa.» Baroder Bat-Mizwa heisst übersetzt «Sohn» beziehungsweise «Tochter des Gebotes».
Als es in der Schule kürzlich um verschiedene Religionen gegangen sei, habe er die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen der jüdischen und der christlichen Religion gut erklären können, sagt Ezra.
Um die Kinder vorzubereiten, lässt Dan Dunkelblum sie auch schon vor der Feier die Heilige Schrift anfassen, rituell vorzeigen und aufs Lesepult legen. «Ich selber durfte vor meiner Bar-Mizwa die Rolle nie berühren. Aber ich finde es schön, wenn die Kinder das kurz vorher ein-, zweimal üben können. Das lindert die Aufregung sehr», meint er.
Verantwortung übernehmen
Ezra wird nicht nur seinen Thora-Text vorlesen. «Ich muss auch eine Rede halten, erklären, wie ich den Text interpretiere, und mein Projekt vorstellen.» Zum Text wird er sich noch Gedanken machen. Doch das Projekt läuft. «Wir nennen das ‹Tikkun Olam›, das heisst‚ ‹die Welt heilen›.» Denn zum religiösen Erwachsenwerden gehöre auch, Verantwortung für die Welt zu übernehmen.
Ezra unterstützt mit seinem Projekt «World Central Kitchen». Er hat eigens eine Website erstellt, wo er das Projekt vorstellt und einen Link angibt, über den man spenden kann. «Diese Organisation verteilt Essen in Kriegsgebieten, aktuell in der Ukraine und in Gaza, für die Menschen, die am Verhungern sind. Sie schaut auch, dass es gut verteilt wird», erklärt Ezra mit grossem Ernst.
«Die hebräischen Buchstaben lernen wir von klein auf im jüdischen Religionsunterricht.»
Ezra hat selber entschieden, die BarMizwa zu machen. «Meine Eltern sagten: ‹Es ist besser, wenn du es machst, aber du musst nicht.›» Ezra ist sich bewusst: «Es ist eine Tradition, die schon vor tausend Jahren so durchgeführt wurde.»
Ein bisschen die Welt heilen
Das möchte er weiterführen. Bei Freunden hat er schon erlebt, dass sie nach der Bar-Mizwa in der Synagoge zu Hause ein «Riesen-Fest» gefeiert haben. «Ich möchte kleiner und ruhiger feiern. Für mich ist das anschliessende Fest weniger wichtig. Ich habe ja keinen Nobelpreis gewonnen.» In der Synagoge vor die versammelte Gemeinde hinstehen und mutig den uralten Text vortragen, die Verbindung zum eigenen Leben aufzeigen und mit seinem Projekt ein wenig «die Welt heilen», das ist ihm wichtig.