Ob nach Mekka, Madras, Rom oder Santiago de Compostela – wer sich auf den Weg macht, verändert sich. Ein Muslim, eine Hindu und zwei Christen sprechen über die Erfahrungen ihrer Pilgerreisen.
Interview: Anouk Hiedl, Tilmann Zuber
Fotos: Pascale Amez
Sie sind zu Fuss 2500 Kilometer gepilgert. Warum?
Mariette Mumenthaler: Als ich mich vor 20 Jahren auf den Pilgerweg ins spanische Santiago de Compostela machte, wollte ich über den Sinn des Lebens nachdenken. Vieles hatte ich in meinem Leben schon gemacht, und plötzlich fragte ich mich, warum ich all dies eigentlich tat. So bin ich dann losgegangen. Pilgern heisst gehen. Es ist wichtig, langsam vorwärtszukommen.
Lars Kottmann: Zum Abschluss einer Auszeit entschied ich mich 2017, nach Santiago zu pilgern. Ich hatte damals mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen, hatte meinen Job gekündigt und das tiefe Bedürfnis, diesen Weg zu gehen.
Auch Sie pilgerten, stiegen dabei aber als Erstes ins Flugzeug.
Burim Luzha: Ja, ich hatte aufgrund der Arbeit nicht viel Zeit. Deshalb bin ich nach Mekka geflogen. Aber auch dort ist man viel zu Fuss unterwegs. Die Heilige Moschee von Mekka ist die grösste der Welt, jährlich besuchen sie Millionen von Pilgern. Die Kaaba, das quaderförmige Haus Gottes im Innenhof der Moschee, ist unser zentrales Heiligtum. In ihre Nähe zu gelangen, kann man vergessen. Ich bin um drei Uhr nachts dorthin aufgebrochen und hatte dennoch keine Chance. Da waren viel zu viele Menschen. In Mekka braucht man Geduld, Geduld und nochmals Geduld.
Was ist Ihnen beim Pilgern wichtiger, der Weg oder das Ziel?
Kottmann: Der Weg.
Lalithambikai Sinnadurai: Für mich ist es eindeutig das Ziel, der Tempel der Göttin Shakti im indischen Madras. Das spirituelle Leben findet in und um den Tempel statt. Wenn ich dort bin, besuche ich ihn jeweils dreimal täglich. Ich bete, esse vegan, singe, meditiere und übe Yoga.
Mumenthaler: Als ich nach Santiago pilgerte, hatte ich ein Ziel. Aber schlussendlich hat mich der Weg innerlich viel mehr bewegt.
Kottmann: Das habe ich auch so erlebt. Das Unterwegssein war schöner als das Ankommen. Die Menschenmassen und der Rummel in Santiago liessen mich nicht zur Ruhe kommen. Ich ging dann weiter zum Kap Finisterre. Dort sass ich auf einer Klippe, sah auf das weite Meer hinaus und konnte so meine Pilgerreise gut abschliessen.
Luzha: Im Islam sagt man, Gott belohne nicht nur den Erfolg, sondern auch die Anstrengung. Neben dem Ziel ist der Weg entscheidend. Für jeden Muslim und jede Muslimin ist der Hadsch, die grosse Pilgerfahrt nach Mekka, eine religiöse Pflicht, die er einmal im Leben absolvieren muss. Früher reisten die Gläubigen in Karawanen Hunderte von Kilometern weit. Der Einzelne pilgerte in einer Gemeinschaft und wurde so in seinem Glauben gestärkt. Wer pilgert, begibt sich auf einen Glaubensweg zu sich selber.Die Reise nach Mekka ist eine religiöse Selbstfindung. Die weisse Kleidung, die alle tragen, drückt aus, dass wir Teil einer Gemeinschaft sind. Wir pilgern, um uns in Bescheidenheit und Weisheit ein Stück weit zu stärken.
Sie sind allein gepilgert. Hatten Sie Angst vor der Einsamkeit?
Mumenthaler: Anfangs befürchtete ich, es könnte mir unterwegs langweilig werden. Was sollte ich den ganzen Tag lang denken? Doch dann fand ich den Rhythmus. Im Jahr 2000 traf man auf dem Jakobsweg nach Santiago nur wenige Pilgerinnen und Pilger. Die Gespräche mit ihnen waren eindrücklich. Ich konnte offen über alles reden und musste mich nicht verstellen.
Kottmann: Die Einsamkeit der ersten beiden Wochen machte mich dünnhäutiger. Es gab keine Medien und keine Nachrichten. Nichts, nur den Weg und mich. Ich reagierte auf alles viel direkter. Wenn es anstrengend wurde und die Hitze zunahm, wünschte ich mir, mit jemandem zu reden. Ich merkte, dass ich mir in diesen Momenten nicht zu viele Gedanken machen durfte. Je weiter ich ging, desto mehr genoss ich die Einsamkeit. Der Weg war ein wichtiger Lernprozess.
Zum Pilgern braucht man Zeit und Geld. Ist Pilgern heute ein Luxus?
Mumenthaler: Nein, denn auf dem Weg nach Santiago de Compostela kommt man mit wenig aus, sofern man in Herbergen, Schlafsälen oder draussen übernachtet.
Luzha: Ins saudische Mekka zu pilgern kostet. Deshalb unternehmen die meisten Muslime die Pilgerfahrt nur einmal. Wenn die Menschen bei der Kaaba stehen, sieht man keine Unterschiede zwischen arm und reich. Denn alle tragen dort das gleiche weisse Gewand. Ganz anders ist es in den Strassen Mekkas: Auf der einen Seite stehen Luxushotels, während in den Nebenstrassen Pilger aus Afrika und anderswo ihr Essen unter freiem Himmel kochen. Die Pilgerreise zeigt, dass Materielles schlussendlich keine Erfüllung bringt. Deshalb suchen viele trotz Reichtum das einfache Leben.
Sinnadurai: Flugtickets nach Indien sind natürlich teuer. Von weit her zu pilgern, ist also ein Luxus. Den Shakti-Tempel in Madras besuchen aber auch viele Einheimische, die arm sind. Alt und Jung leben auf der Strasse, waschen sich im Fluss und erledigen ihre Notdurft draussen. Es ist traurig, dies zu sehen. Ich stamme aus Sri Lanka und weiss, was Armut bedeutet. Den Freiwilligen, die vor dem Tempel Essen an die Armen verteilen, spende ich deshalb regelmässig Geld.
Wie erleben Ihre Kinder das?
Sinnadurai: Als Kulturschock. Wenn wir zurückkehren, sind sie jeweils eine Woche lang nicht wirklich gesprächig. Und dann sagen sie: Wir leben im Luxus. Wir können wählen, was wir essen, während andere sich nur Reis mit Gemüse leisten können, wenn überhaupt. Ich finde es wichtig, ihnen aufzuzeigen, wie andere auf der Welt leben.
Es gibt Pilgerberichte über Gottesbegegnungen. Hatten Sie ein spirituelles Erlebnis?
Luzha: Die Zeit in Mekka erfüllte alle meine Sehnsüchte. Mir wurde bewusst, dass an diesem Ort bereits Abraham, die Propheten und Mohammed, der letzte Gesandte Allahs, gewesen waren. Das war sehr emotional. Durch diese Gottesnähe fand ich inneren Frieden und Glückseligkeit. Ich sage nicht, dass ich Gott begegnet bin, aber in meinem Denken und Handeln bin ich Gott nähergekommen. Ich spürte, was mir im Leben wichtig ist. Viele materielle Wünsche, die ich hatte, sind nebensächlich geworden. Weniger schön war, mitanzusehen, wie historische Stätten in Mekka abgerissen und stattdessen riesige neue Hotelbauten errichtet werden.
Kottmann: Ich hatte nicht die Erwartung, Gott zu begegnen. Doch es war so, dass durch das Gehen und Unterwegssein Frieden in mein Leben kam. Das wurde mir aber erst zu Hause bewusst. Ein Erlebnis kam dennoch einer Gottesbegegnung sehr nahe: Kurz nach Genf hatte ich eine Krise, und ich glaubte, nicht mehr weitergehen zu können. Als ich erschöpft auf einer Bank am Waldrand sass, landete ein Schmetterling auf meiner Hand. Das war mir vorher noch nie passiert. Der Schmetterling sass minutenlang da und wuselte herum. Ich begriff in diesem Moment, dass es wichtig und gut war, dass ich diesen Weg machte. Mir schien: Gott sagt deutlich Ja zu mir. Nach zehn Minuten wollte ich weitergehen und stupfte den Schmetterling ganz sanft an. Doch er blieb. Gott hat in diesem zarten Insekt ein Werkzeug gefunden, um mit mir über die Zerbrechlichkeit und Schönheit des Lebens zu kommunizieren.
Sinnadurai: Wir begegnen Gott in unseren Ritualen; im Singen und Beten verbinden wir uns mit ihm. Ein tamilisches Sprichwort sagt, dass wir Gott im Lachen der armen Menschen begegnen.
Mumenthaler: Auf dem Jakobsweg erfuhr ich Gott in den Zusammentreffen mit anderen Menschen. Diese spirituelle Dimension zu spüren, tat mir gut. Solche Momente erlebte ich auch in den Kirchen und Kapellen, die ich besuchte. Mich beeindruckte, dass hier schon so viele Generationen gebetet haben.
Was empfehlen Sie Pilgeranfängern?
Sinnadurai: Eine Reiseapotheke mitzunehmen, um gegen Krankheiten gewappnet zu sein. Insgesamt sollte man keine zu hohen Erwartungen haben, weder an den spirituellen noch an den touristischen Teil der Reise. Der Lebensstandard in Indien ist nicht derselbe wie in der Schweiz, doch die Reise lohnt sich auf jedem Fall.
Mumenthaler: Beim Pilgern ist weniger mehr. Vor meiner Reise nach Santiago riet man mir, von allem drei Stück mitzunehmen: drei Hosen, drei Hemden, drei Sockenpaare. Unterwegs merkte ich: Eigentlich brauche ich nur zwei.
Kottmann: Der wichtigste Tipp lautet: Geh einfach los. Der Rest ergibt sich von alleine. Viele Menschen träumen von dieser Reise, aber es fehlt ihnen der Mut, sie anzutreten. Und man sollte sich zu Beginn einer Pilgerreise nicht zu viele Kilometer pro Tag vornehmen. Irgendwann ist man erschöpft.
Luzha: Ich finde, man sollte sich auch gut seelisch auf die Reise vorbereiten, sich überlegen, was man in Mekka erhofft, und sich bewusst werden, welche Gewohnheiten und Zwänge man aufgeben kann.
Hat Sie die Pilgerreise verändert?
Kottmann: Ich habe erlebt, was es bedeutet, unterwegs zu sein und im Heute zu leben, ohne das Morgen planen zu müssen. Beim Pilgern lernt man, den Moment auszukosten, sich zu öffnen und zu vertrauen. Man weiss nicht, was der nächste Tag bringt oder wo man in einer Woche eine Übernachtungsmöglichkeit findet und was man essen wird. Diese Erfahrung gibt mir bis heute noch viel Energie.
Luzha: Die Mekka-Reise hat mich verändert. Ich denke immer wieder darüber nach und merke, wie lehrreich sie war. Ich reise gern und habe über dreissig Länder besucht. Doch diese Menschenmasse in Mekka war gewaltig und eindrücklich. So einen Moment hatte ich vorher noch nie erlebt. Er lehrte mich Geduld und Rücksichtnahme.
Sinnadurai: Ich bin so oft nach Indien gereist, dass ich keine grossen Erwartungen mehr habe. Ich bete auch zu Hause und versuche, hier Frieden zu finden. Ich erinnere mich an das schwierige Leben in Sri Lanka und weiss, wie wichtig es ist, Frieden zu suchen und sich gegenseitig zu unterstützen.
Mumenthaler: Im Gegensatz zum Jakobspilgern hatte meine Pilgerreise nach Rom 2016 ein kirchenpolitisches Ziel: Wir wollten dem Papst eine Petition übergeben, die die Gleichberechtigung der Frauen in der katholischen Kirche forderte. Vertreter des Vatikans haben uns aber nicht empfangen. Doch der Weg und die Gespräche unterwegs und in Rom haben mir bewusst gemacht, wie drängend dieses Thema ist. Deshalb bin ich froh, nach Rom mitgepilgert zu sein.
Und das mit über 70 Jahren. Ist man zum Pilgern je zu alt?
Mumenthaler: Nein. Solange man sich gesund fühlt, wartet stets ein Weg.