Videoessay: Labyrinthe

Labyrinthe sind wie kleine Pilgerreisen. «zVisite»-Redaktor Thomas Binotto macht diese Reise zweimal: einmal klassisch im Text – und einmal popkulturell im Videoessay .

 

 

Das sagenhafteste Labyrinth der Antike steht in Knossos auf der Insel Kreta. In dieses von Daedalus erbaute Labyrinth wagt sich Theseus vor und besiegt dort Minotaurus, der sich von Menschen-opfern ernährt. Schon früh sehen Christen in Jesus ihren vollendeten Theseus, der sich für sie bis in den Tod vorgewagt und damit Menschenopfer für immer überflüssig gemacht hat.

Das grösste christliche Labyrinth liegt in der Kathedrale von Chartres: 13 Meter im Durchmesser – 294 Meter geht man bis zu seiner Mitte. Es ist in 11 Gängen angelegt. Die 11 ist mit Bedacht gewählt, sie steht für Masslosigkeit und Übertretung. Der Weg durch dieses Labyrinth ist also ein Bussweg, ein Weg zu Besinnung, Übergang und Umkehr. Nach 294 Metern gelangen wir an seinen innersten Punkt. Stellt man sich das Labyrinth als Gebäude vor, so ist man nirgends so weit vom Licht entfernt wie hier.

Wer das erkennt, der wird sich um die eigene Achse drehen und so dem Leben eine 180°-Kehrtwende verleihen. Mehr muss er nicht tun, als bloss seinen Weg, den er gekommen ist, nochmals zu gehen. Allerdings geht er ihn nun als gewendeter Mensch dem Licht entgegen.

Das Labyrinth kennt nur einen Weg. Es lässt keine Wahl. Ma kann in ihm nicht in die Irre gehen. Diese Heilsgewissheit zerbricht in der Renaissance. Immer mehr Menschen glauben nicht mehr daran, dass die Kirche den einen sicheren Weg vorzeichnet. In ihrer Emanzipation verändern sie auch die Gestalt des Labyrinths. Jetzt wird daraus ein Irrgarten, in dem man sich ständig neu entscheiden muss und ein Herausfinden nicht mehr selbstverständlich ist. Nun führt das Gewissen durchs Leben.

In der Aufklärung wird aus dem mystischen Geheimnis, für das das Labyrinth auch steht, ein Rätsel, das gelöst werden muss und kann. Die gesamte Schöpfung wird als Mechanismus verstanden, den es zu durchschauen gilt. Aus dem Pilgerweg wird eine Suche nach Lösungsalgorithmen.

Obwohl sich Theseus in ein «sicheres» Labyrinth vorgewagt hatte, konnte er den Ausgang nicht eigenhändig finden. Orientierung kam von einem Faden, der sich vom Wollknäuel abrollte, den Ariadne vor dem Labyrinth in Händen hielt. Es war dieselbe Ariadne, für die Daedalus ein weiteres Labyrinth als Tanzplatz angelegt hatte. Aus dem Mittelalter in Auxerre und Sens sind Osterliturgien überliefert, in denen Bischof und Domkapitel im Labyrinth der Auferstehung entgegentanzen. Symbolisiert wurde diese Ostersonne durch einen Ball, den sich die Kleriker im Labyrinth zuwarfen.

Wenn wir die Spirale in Drehung versetzen, dann wird sie zum Paradox in Bewegung. Sie führt dann gleichzeitig hinein und hinaus. Genauso wird der Gang durchs Labyrinth – maximaler Weg auf minimalem Raum – zum Geheimnis des Glaubens: In ihm sind Tod und Leben vereint, Enge und Weite, Leiden und Erlösung, Ende und Anfang.

Thomas Binotto