Von Liebesgeschichten und Wettkämpfen

Die Juristin und interkulturelle Mediatorin Laavanja Sinnadurai tanzt schon ihr ganzes Leben: Der indische Tempeltanz ist ihre Leidenschaft.

Text: Katharina Kilchenmann

Foto: Pascale Amez

 

Die Armreifen klimpern, während Laavanja Sinnadurai sich die Ohrhänger ansteckt. Spiegel braucht sie dafür keinen, denn das hat sie schon unzählige Male gemacht. «Ich tanze, seit ich denken kann», sagt die 30-Jährige. «Schon als kleines Mädchen war ich im Unterricht und bewunderte meine Tanzlehrerin, ihre Schönheit und ihre Bewegungen. Und bis heute gehören der Tanz, die Kleider, der Schmuck und die Art, sich zu schminken, zu meinem Leben.» Schnell schlüpft sie in den seidenen Sari, den sie über ihren Alltagskleidern trägt, drapiert das Stoffende lässig über der Schulter und steckt mit einer Klemme die Haare zusammen. «Wie Bollywood, nur echt», sagt sie lachend.

«Ich tanze, seit ich denken kann»

Schön wie die hinduistische Göttin für Glück und Liebe Lakshmi steht sie da, die Juristin und interkulturelle Mediatorin aus Bern, und stellt ein paar Gesten des indischen Tempeltanzes vor: Wellenförmige Handbewegungen symbolisieren das Wasser, ein Halbkreis mit dem einen Arm deutet die aufgehende Sonne an, die nach oben zeigenden Handflächen mit gespreizten Fingern die offenen Blätter einer Seerose. «Im Bharatanatyam gibt es stilisierte Gesten für Tiere, die Natur, Götter und Menschentypen», führt sie aus.

 

Teil der Volkskultur

Da kommen etwa Götter den Erdengeschöpfen zu Hilfe, verführen sie oder fordern sie heraus, etwas Aussergewöhnliches zu tun. Mal sind es Liebesgeschichten, mal Wettkämpfe, immer aber geht es um die Menschen in ihrem Alltag, zu dem auch ihre Glaubenspraxis gehört. «Bei uns wird nicht so sehr getrennt zwischen dem Weltlichen und dem Geistlichen», sagt Sinnadurai. «Wenn Gott Krishna, der Liebling der Frauen, auftaucht, verschmelzen die Welten. Dann geht es einfach nur um Liebe im Herzen, im Körper und im Geist.

Bharatanatyam ist einer der ältesten klassischen Tanzstile des indischen Subkontinents. Er wird nicht nur von den Tempeltänzerinnen interpretiert, sondern ist auch Teil der hinduistischen Volkskultur. Das Wort setzt sich aus den Abkürzungen der vier wesentlichen Tanzelemente zusammen: «Bha-va» steht für Emotion, «Ra-ga» für die Melodie, «Ta-la» ist der Rhythmus und «Natya» heisst Tanz.

Das Publikum berühren

Es sind die Grundpfeiler dieses Tanzes, der auch schauspielerische Elemente hat. Das macht Sinnadurai gleich vor: Weit öffnet sie die Augen und macht ein grimmiges Gesicht, nur um gleich ein Lächeln zu zeigen, das das Herz berührt. «Die Mimik ist wichtig, und ich muss mich als Tänzerin in die Emotionen jeder Figur hineinfühlen. Nur so kann ich das Publikum mit der Geschichte berühren.»

In Zentralindien wurden die bisher ältesten Dokumentationen des Tanzes überhaupt entdeckt. Steinzeitliche Höhlenmalereien stellen den tanzenden Gott Shiva dar. «Shivas Tanz symbolisiert den Kreislauf der Zeit, des Lebens insgesamt. Er zerstört das Alte und schafft neues Leben», sagt Sinnadurai. Damit bezwinge er die Dämonen der Unwissenheit und Unachtsamkeit. «Es heisst, wenn Shiva zu tanzen aufhört, steht das Universum still. Tanz ist für uns eine Form von Gebet, wir ehren und feiern damit die Götter, die Menschen und das Leben.»