Der Schriftsteller Thomas Meyer findet die Texte in der Bibel aktuell. Doch wer nur rede, anstatt zu handeln, sei unglaubwürdig, meint der Atheist mit jüdischen Wurzeln in seinem Essay.
Text: Thomas Meyer
Foto: Annette Boutellier
Damit wir uns richtig verstehen: Ich bin kein Ungläubiger. Ich bin überzeugt, dass eine immaterielle Welt existiert, dass nach dem Tod noch eine Menge kommt und dass nur eine himmlische Kraft etwas derart Prachtvolles wie die Natur erschaffen kann. Bäume und das Meer sind in meinem Empfinden ebenso beseelt wie ein Mensch oder ein Tier. Oder wie der niederländische Philosoph Baruch de Spinoza es einst formulierte: Gott ist in allem Seienden. Ich kann mit diesem Begriff einiges anfangen. Mit Religion hingegen, dem Wort, das über Gott gesagt und ihm in den Mund gelegt wird, überhaupt nichts. Ich halte es für Geschwätz.
Hübsch, aber leer
Vor einiger Zeit sass ich im Engadin in einer Berghütte und bekam ein Gespräch über Religion mit. Ein Mann sagte, dass Gottes Gnade schon vor der Geburt wirke. Eine Frau meinte, das sei ein schöner Gedanke. Ich dachte: Das ist gewiss ein schöner Gedanke, aber auch einer, dem alle problemlos zustimmen können. Wie den Sätzen, die auf den blauen Plakaten stehen: «In allen Schwierigkeiten tröstet Gott uns» oder: «Der Herr gebe Dir Frieden.» Hübsche Worte, aber auch leere. Sie helfen niemandem, der tatsächlich in Schwierigkeiten steckt oder Frieden braucht. Wie auch? Es sind nur Worte.
«Religion wäre eine tolle Sache, wäre sie nicht nur Wort, sondern auch Tat.»
Falls Sie nun einwenden, dass der Meyer doch jüdisch sei und es ihm nicht zustehe, das Christentum zu kritisieren: Keine Sorge, ich empfinde auch die jüdische Religion als nichtssagend. Meine Mutter nahm mich, als ich ein Junge war, einige Male in die Synagoge mit. Ich langweilte mich fürchterlich und sah keinen Sinn darin, stundenlang inmitten betender Menschen zu sitzen. Später empfand ich Religion oft schlicht als Lüge, namentlich die «christlichen Werte», die oft zitiert, aber so selten gewürdigt werden. Wäre Religion echt und ehrlich, würde sie die Schöpfung ehren, also die Natur bewahren, und Liebe praktizieren, also Kinder, Arme und Schwache schützen und ihnen helfen. Das ist aber üblicherweise nicht, was der Mensch macht, im Gegenteil, weder als Jude noch als Christin noch als sonst etwas.
Es ist Zeit, Gutes zu tun
«Werdet nicht müde, Gutes zu tun», steht auf einem weiteren der Plakate der Agentur C, des «Vereins überkonfessioneller Christen, dem das Wort Gottes am Herzen liegt». Auf ihrer Website steht: «Wir sind überzeugt, dass die Worte aus der Bibel aktueller sind denn je.» Ja, das sind sie. Es ist höchste Zeit, Gutes zu tun: für die Natur, für die Benachteiligten, für die Bildung, für das Gesundheitswesen. Aber an der Urne wird gegen Initiativen für den Gewässerschutz gestimmt und für die Beschaffung von neuen Kampfflugzeugen. Es wird munter Fleisch gegessen und eine Landwirtschaft betrieben, die den Boden und die Artenvielfalt zerstört.
Religion wäre eine tolle Sache, wäre sie nicht nur Wort, sondern auch Tat. Sie erschöpft sich aber in sich selbst, weil die meisten, die sich religiös nennen, sich damit begnügen. Ich glaube der Religion nicht, weil sie redet, statt zu handeln, und sich im Reden so sehr gefällt, dass sie ernsthaft meint, Menschen mit Plakatsprüchen zu helfen. Das ist – wortwörtlich –
unglaubwürdig.